Theorien der internationalen Beziehungen
Infografik Nr. 609025
In der Politikwissenschaft gibt es sehr gegensätzliche Theorien darüber, wie die Staatenwelt funktioniert. Diese Theorien werden nicht nur im akademischen Elfenbeinturm erwogen, sondern haben ganz praktische Bedeutung: Auf einer systematischen Ebene spiegeln sie nämlich Grundüberzeugungen über das Verhalten von Staaten wider, die auch jeder politische Entscheidungsträger bewusst oder unbewusst teilt und die sein eigenes Handeln bestimmen. Heute gibt es viele verschiedene Theorien, deren „Pluralismus“ teils gepriesen, teils beklagt wird. Sie alle lassen sich aber zwei großen Strömungen zuordnen.
Eine davon ist der Realismus, der als systematisierte Theorie nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Er will die Realität so beschreiben, wie sie ist, nicht wie sie sein soll. Eine vollkommen friedliche Welt ist nach diesem Denkansatz nicht möglich, Konflikte bleiben die Regel. Der klassische Realismus begründet das mit dem menschlichen Streben nach Macht. Der in den 1970er-Jahren entwickelte Neorealismus stellt mehr auf die Struktur der Staatenwelt ab: Anders als im Inneren von Staaten, wo das staatliche Gewaltmonopol geltendes Recht durchsetzen kann, gibt es oberhalb der Staaten keine Instanz, die Rechtsverstöße wirksam ahnden könnte. Die Staatenwelt ist insofern „anarchisch“. Um ihre Sicherheit in dieser bedrohlichen Umwelt zu gewährleisten, bleiben Staaten auf Selbsthilfe angewiesen – entweder durch eigene militärische Fähigkeiten oder indem sie sich einer starken Schutzmacht unterstellen. Verträge und Abkommen können nie verlässlich Sicherheit garantieren und basieren letztlich auf den bestehenden Machtverhältnissen.
Die andere Hauptströmung ist der Liberalismus. Sein Menschenbild ist optimistischer: In der Tradition der Aufklärung glaubt er an die „Perfektibilität“ des Menschen, also die Fähigkeit, seine unmoralischen Neigungen durch Bildung und Sozialisation zu überwinden. Anders als für den Realismus sind die Hauptakteure in den internationalen Beziehungen auch nicht souveräne Staaten mit ihrer kalten „Staatsräson“, sondern Individuen und gesellschaftliche Gruppen. Auch wenn deren Interessen egoistische sind, lassen sie sich doch so ausbalancieren, dass das Gesamtergebnis zu Frieden und Wohlstand führt. So können etwa internationale Institutionen dazu beitragen, das Staatensystem zu „verregeln“. Eine über Institutionen verstetigte Kooperation schafft nicht nur Vertrauen, sondern auch gegenseitige Abhängigkeiten („Interdependenz“), die Kriege weniger lohnenswert machen. Ein Beispiel ist die EU: Angefangen mit der Zusammenarbeit in der Montanunion hat sich die Kooperation immer stärker ausgeweitet – mit dem Ergebnis, dass heute, nach Jahrhunderten der Kriege, ein bewaffneter Konflikt in Westeuropa kaum mehr vorstellbar ist.
Ausgabe: | 11/2022 |
Produktformat: | eps-Version, Komplette Online-Ausgabe als PDF-Datei. |
Reihe: | 53 |
Reihentitel: | Zahlenbilder |